Zur Konstruktion, Konzeption und Genese einer ungarischen Nationalmusik im Zeitraum 1750 bis 1850

Im Zentrum meines Dissertationsprojekts stehen Fragen zur Formung und Wahrnehmung von nationaler Identität sowohl über Musik als auch deren Träger*innen im sozio-kulturellen Raum Ungarn im Zeitraum 1750 bis 1850. In der ungarischen Musikwissenschaft herrscht weitgehend Konsens über eine Etablierung des csárdás als Nationalmusik ab den 1830er Jahren. Diese Wahrnehmung des csárdás spielt nicht nur in Ungarn eine Rolle, sondern wurde auch im außer-ungarischen Kontext als sogenannter ‚style hongrois‘ rezipiert. Problematisch ist dabei, dass die musikalischen Strömungen davor, insbesondere die Studentenlieder des 18. Jahrhunderts und die Vermischung mit der verbunkos-Musik, in die Konstruktion einer ungarischen Nationalmusik oft nicht einbezogen werden. Welche Prozesse kann man hier beobachten?

@ Reinhard Winkler

Eine kritische Beschäftigung mit dieser Forschungslücke sucht nun Antworten auf jene Frage zu finden. Einerseits untersuche ich dabei Einzelwerke aus den im genannten Zeitraum publizierten Sammlungen auf musikalische Parameter (Harmonie, Rhythmus, melodische Muster) und deren Regelmäßigkeiten. Als ein Beispiel jener Sammlungen können die 1823‑32 in 15 Heften publizierten Magyar Nóták Veszprém Vármegyéből [Ungarische Melodien aus der Gegend um Veszprém] genannt werden. Parallel dazu verknüpfe ich diese Ergebnisse mit Erkenntnissen zur Institutionalisierung von Musik, deren Träger*innen und einer diskursiven Genese des Prädikats ‚national‘. Dadurch versuche ich ein Verständnis für die musikalischen und gesellschaftlichen Prozesse zu entwickeln, welches die beginnende Wahrnehmung von Musik als typisch ‚national-ungarisch‘ erklärt – bis dato in diesem Zeitraum ein Forschungsdesiderat. Methodisch verbindet mein Dissertationsvorhaben musikanalytische, musikhistorische und sozialgeschichtliche Ansätze.

Erstbetreuer: Univ.Doz Prof. Dr. Hans Georg Nicklaus, ABPU
Zweitbetreuer: Assoz. Prof. Dr. Fritz Trümpi, mdw

Biografie

Lukas Mantovan, geboren 1996 in St. Pölten, ist ausgebildeter Geiger und Musikwissenschaftler. Nach den Bachelor- und Masterstudien IGP und Konzertfach Violine an der Bruckner Universität Linz, studierete er Musik- und Tanzwissenschaften an der Paris‑Lodron‑Universität Salzburg und Masterstudium Musikwissenschaft an der Universität Wien. Es folgte eine internationale Konzert- und Orchestertätigkeit als Orchester- und Kammermusiker. 

Erste Erfahrungen im musikwissenschaftlichen Forschen und Arbeiten machte er ab 2017 im Rahmen einer Anstellung im vom FWF geförderten Forschungsprojekts „Towards Interdisciplinary, Computer-assisted Analysis of Musical Interpretation: A Study on the Art of Herbert von Karajan" (P 29840), Schwerpunkt Interpretationsforschung mit der Software Sonic Visualizer und zum filmischen Schaffen Karajans, und 2021 in einem Pilot-Projekt zur computergestützten Interpretationsforschung mit einem zusätzlichen formanalytischen Ansatz „EARS – Early Recorded Symphonies Project“ (beide Bruckner Universität Linz). Während des Masterstudiums in Wien setzte er seinen zweiten Forschungsschwerpunkt an der Schnittstelle zwischen Musik und Gesellschaft, Konstruktion von Nationalmusik im Habsburgerraum ab dem späten 18. Jahrhundert. Seine Abschlussarbeit befasste sich mit der Konstruktion einer musikalischen Nationalidentität Böhmens durch Rezeption der Königinhofer und Grünberger Handschriften.

Seit November 2024 arbeitet Lukas Mantovan am Institut für Theorie und Geschichte (ITG) der Bruckner Universität Linz als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Forschungsassistent und versucht dort in seiner Arbeit einen Brückenschlag zwischen Methoden der Historischen Musikwissenschaft und der Musik- bzw. Formanalyse.